Um auch morgen noch Playground zu haben, sollte man
heute die Musik von morgen spielen, darf dabei aber die Vergangenheit
und Gegenwart nicht völlig außer Acht lassen, da einem
sonst nur Wenige folgen können – und allein macht eine
Party nun mal keinen Spaß.“
Kurz und knapp
Pierre, 29, vielgebuchter DJ, Produzent, Labelbetreiber, „Aufschwung
Ost“-, „Stammheim“- und „Hotel Reiss“-Legende,
begann bereits mit zarten 16 Partys zu organisieren, ganz im Stillen
zunächst, auf dem Dorfe. Seit er zwanzig ist, hat er mit öffentlichen
Erziehungs- und Bildungsanstalten nichts mehr am Hut, lieber bildet
er sich selber fort. Pierre hat mehrere Firmen gegründet, Angestellte
gepiesackt, Geld verdient und wieder verloren. Er kennt das Lied
vom „Lehrgeld bezahlen“ daher ganz gut.
Pierres perfekte Party bewegt sich in rechtsfreier, jedoch kultivierter
Atmosphäre, verfügt über ein gutes Soundsystem, eine
Stage, die auf Augenhöhe mit der Crowd ist, leckere Drinks,
gesunde, entfesselte Menschen in ausgewogenem Mischungsverhältnis,
was Geschlecht und soziale Lage anbelangt.
Pierre liebt(e) das Stammheim, das Omen, das FUSE in Brüssel,
das Alive Festival in St. Vith und derlei Dinge. Der Club-Kultur
der geraden Beats, meint er, würde eine Generalüberholung
nicht schaden. Die Frage, ob er sich vorstellen könne, mit
40 oder 50 noch Clubs zu bespielen, findet er „gut“.
Eine Antwort bleibt er aber schuldig. Macht ja nichts.
Übrigens: Auch der alte Hase DJ Pierre hat bisweilen Lampenfieber,
vor allem dann, wenn ihm der Gig viel bedeutet.
Wie fing das an ...
Das DJing – ein Produkt des Strebens nach Vollständigkeit
und ästhetischer Kontrolle: Mit Freunden entwickelt Pierre
zunächst zahlreiche Partykonzepte, inklusive aufwendiger Deko,
Bühnenshow, spezial Drinks etc. Dass das Personal gerne in
hübschen Kostümen schwitzt, führt leider kaum an
der Tatsache vorbei, dass die musikalischen Vorstellungen ansässiger
DJs sich nicht mit Pierres eigenen Ideen decken. Statt das Zähneknirschen
zu kultivieren, macht er sich selbst mit dem Plattendrehen vertraut.
Solide Gast-DJs besorgen den Rest. Die Kuh muht und saust durch
die Dorfstraßen.
Irgendwann wird es Pierre zu eng auf dem Land. Er zieht nach Kassel,
beschallt u.a. die schnuckelige Lolita-Bar und sucht sich bald (1994)
seinen Platz im Team des frisch geschlüpften Clubprojektes
„Aufschwung Ost“, als DJ und Programmgestalter. Organisatorische
Tätigkeiten übernimmt er auch deshalb, weil er, wie er
sagt „anderen nicht seine Zukunft überlassen mag“.
Das „Aufschwung Ost“ verpuppt sich und wird ab 1997
zum „Stammheim“. Pierre ist Mitinhaber und Resident-DJ.
Von Kassel aus bereist er ganz Deutschland und die Welt.
Er spielt – eine bescheidene Auswahl – im Tresor, Omen,
Ultraschall, auf der Love Parade, im Radio, in Australien, Kanada,
England, Spanien usf. 2002 ist Pierre Resident des Kasseler Hotel
Reiss, des Frankfurter U60311 und der deutschen Radiomixshow XXL
Clubnight.
The bad one, the good one
Um ein vernünftiger DJ zu werden, braucht es zunächst:
„Publikum“. Selbstverständlich. Ein leeres Haus
ist tot, erst recht verleiht es keine Flügel.
Der unterhaltsame DJ, sagt Pierre, braucht außerdem „ein
geübtes Auge, um seine Gäste zu differenzieren, ein natürliches
Gefühl für Dramaturgie und Taktgefühl, beim Platteneinkauf
ein Ohr für den nächsten ‚Hit’, so wie ein
gutes Erinnerungsvermögen, um sich nicht jede Woche gleich
anzuhören“. Hat der DJ mehr im Sinn als gediegenes Entertainment,
„benötigt er eine kreativere Vorstellung von Dramaturgie
und Musikgeschmack.“ Er sorgt dann dafür, dass sich das
Publikum an seine Vorstellungen anpasst, ohne dessen Wünsche
dabei außer acht zu lassen.
Ratet mal, zu welcher Sorte DJ Pierre gehört? Zu weit verbreiteten
DJ-Fehlern zählen übrigens, so Pierre, „Überheblichkeit,
Trinkfestigkeit, Egozentrik und Taktlosigkeit“, zu den Tugenden
„Aufgeschlossenheit, Geschick, technisches Verständnis,
Trinkfestigkeit, Einfühlungsvermögen, Geselligkeit, Fantasie
und Teamgeist“.
Bedeutung und Berufung
Dass sich in den letzten zehn Jahren innerhalb der medialen Rezeption
des DJs einiges verändert hat, ist unbestreitbar. Längst
ist der DJ eine feuilletonfähige Figur. Ganze Phänomenologien
des Mixens wurden verfasst. Und trotz der zigfachen Todeserklärung
der sog. Raving Society, der Beruf DJ scheint heute mehr denn je
– obgleich nach wie vor mythisch aufgeladen – gesellschaftliche
Normalität. Pierre selbst begrüßt die Anerkennung
seiner Tätigkeit, da dies, wenigstens in der konkreten Clubsituation,
auch dazu beitrage, sich zunehmend „besser selbst verwirklichen
zu können, weil das routinierte Publikum den jeweiligen musikalischen
Vorgaben einfach vertrauensvoller folgt“.
Das Plattendrehen indes reizt Pierre nach über 12 Jahren immer
noch sehr, insbesondere wenn es zu Verschmelzungsprozessen kommt,
zu jenen Momenten, bei denen DJ und Publikum das Gefühl haben,
„auf einer gemeinsamen Welle“ zu reiten.
Sounds like ...
Ein DJ definiert sich nicht zuletzt über seinen Mix-Stil so
wie über das, was er spielt und – hoffentlich –
selber mag. Dass letzteres bei Pierre der Fall ist, steht außer
Frage. Soundästhetisch bevorzugt Pierre: natürliche Komplexität,
gekonnten Minimalismus, funktionellen Purismus, satte Grooves, individuelle
Sounds, sowie oldschoolige Spurtreue. Was seinen Style anbelangt,
mag er derzeit Sets mit improvisatorischem Charakter, wobei er zu
bedenken gibt, dass ein „Publikum, welches sich in einem eher
aufgewühlten, turbulenten Zustand befindet, kurze, prägnante
und transparente Mixe bevorzugt“. Im Zustand größerer
Entspanntheit seien hingegen „epischere Rhythmusverläufe,
sorgsame Verschmelzungen und ein höherer Anteil an Melodiösität
möglich und erwünscht“. Pierre schätzt beides
gleichermaßen. Produktion und Labelarbeit
Man könnte natürlich unken: Irgendwann fangen sie doch
alle an, die DJs, selbst Platten zu produzieren, und falls das allein
nicht reicht, basteln sie sich eben noch schnell ein Label dazu.
Andererseits gereicht es erfahrungsgemäß gerade dem Clubpublikum
zum Vorteil, wenn DJs zu Musikern werden – sie wissen in aller
Regel, wie man Beine bewegt und Ärsche zum Wackeln bringt.
Pierre’s und Marky’s gemeinsames Label Hörspielmusik“,
wurde Ende 1998 aus der Wiege gehoben. Seither erscheinen dort circa
acht Releases im Jahr. Pierre betrachtet „Hörspielmusik“
als Spielwiese für verschiedene Stile, als Plattform für
eigene und fremde Veröffentlichungen, verknüpft durch
die Idee abwechslungsreicher Arrangements und daher mehr oder weniger
stark differierend von herkömmlichen Eins-Zwo-Techno-Nummern.
„Utils“ hingegen, ein weiteres Label der Beiden, hat
sich der härteren Gangart verschrieben. Pierre beschreibt es
als Technotool-Label mit Soul. Es amüsiert ihn, dass viele
meinen, es handele sich um ein amerikanisches Label.
Was noch? Eine Menge, sicherlich. Doch in aller Kürze: Zu erwarten
ist im Herbst 2003 („Heimfidelity Vol. 6“). Genauer
gesagt, handelt es sich um eine Kollaboration zwischen ihm und dem
Resident-DJ des längst legendären FUSE in Belgien. Anfang
2004 erscheint Pierres Debüt-Album. Wir sind gespannt.